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Karl Kraus, hilf!

Das kann kein Zufall sein. Erst vor einer Woche hat der Süddeutsche Verlag verlauten lassen, dass alles noch viel schlimmer wird als angenommen: Bis 2004 müssen fast 20 Prozent der Mitarbeiter das noble Haus verlassen. Und nun startet die Süddeutsche Zeitung unter dem Motto "Aufmacher – Vorbilder des Journalismus" eine Serie, die nichts weniger als einen Kanon journalistischer Werke im Sinn hat. "Inseln im Meer der Massenproduktion" möchte man finden und den "Qualitätsjournalismus als Kulturleistung von Rang" adeln. Denn Journalismus könne "wie Literatur, Musik und Kunst eine schöpferische Tätigkeit sein". Also schrieben am letzten Samstag Wolfgang Langenbucher und Herbert Riehl-Heyse in einem Einstimmungs-Aufsatz, der Max Weber und Joseph Roth als Leitsterne aus leider längst vergangener Zeit herbei zitiert und das fehlende Bewusstsein "für die Originalität, die historische Kontinuität und die Qualität des modernen Journalismus" bedauert. Statt dessen kokettiere der Beruf mit dem "dummen Spruch", es gebe nichts Älteres als die Zeitung von gestern. Ein Kanon: das klingt honorig und - mit Verlaub - reichlich verstaubt. Ein paar Jahrzehnte Medientheorie sind an den Schreibern offenbar spurlos vorübergangen. Oder ganz praktisch formuliert: Ein Mann wie Riehl-Heyse mag sich noch als "Schöpfer" fühlen, weil ihm das Spätbürgerblatt Süddeutsche den Raum für lange Stücke lässt, aber das ist doch wohl die Ausnahme im Medienbetrieb 100 Jahre nach der Blüte des Bürgertums und der Aufbruchstimmung der Moderne. Derselbe SZ-Kanonist Riehl-Heyse hatte noch im Oktober die Journalisten angesichts der schlechten Lage der Medienbranche zur Grundsolidarität aufgefordert. Das ging nicht zuletzt an die Adresse der eigenen Medienredaktion, die eine Insider-Berichterstattung kultiviert hatte, die trotz ihres kritisch-enthüllenden Gestus' geradewegs in die Sackgasse der Selbstreferenz führte. Dazu passte, dass in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung ein ehemaliger SZ-Journalist eine Rubrik unter dem gehässigen Titel "Die lieben Kollegen" installierte. Es soll ja mal eine Zeit gegeben haben, da warben sich FAZ und Süddeutsche gegenseitig die Leute ab. Und nun also: ein bildungsbürgerlicher Kanon statt gehässiger Kolportage, kulturelle Krisenbewältigung statt redaktioneller Hahnenkämpfe. Vielleicht ist in einer Situation, in der Zeitungen eingestellt und Stellen gestrichen werden, das Bedürfnis, bleibende Werte zu schaffen, ja wirklich besonders groß. Vielleicht braucht man in einer Zeit, in der der Buchtitel "Traumberuf Journalist" plötzlich wie Hohn klingt, tatsächlich einen Kanon, etwas zum Festhalten. In der Sendlinger Straße ist die Fallhöhe ja besonders groß: Dort stürzt man von ziemlich weit oben. Vertreibung aus dem Efenbeinturm
Nein, all das ist gewiss kein Zufall. Der Journalismus steht in diesen Tagen vor einer außergewöhnlichen Situation: Wir hatten uns daran gewohnt, in unserem publizistischen Elfenbeinturm zu sitzen und nach draußen zu schauen. Nun sind wird plötzlich selbst betroffen. Und haben das Ungemach nicht einmal vorausgesehen. Was nun? Ein kanonischer Rückzug, wie ihn die Süddeutsche jetzt ersonnen hat, verheißt gewiss keine Rettung: Vogel Strauß steckt seinen Kopf in die Werke der Klassiker. Dabei gäbe es gerade jetzt so vieles, was der Journalismus tun müsste, um seine Haut zu retten. Natürlich geht es um Qualität, genauer: um die Frage, was journalistische Qualität heute noch wert ist. Aber es genügt gewiss nicht, den eigenen Beruf zur Hochkultur zu verklären und in konservatorischer Reich-Ranicki-Manier zu musealisieren. Von Karl Kraus, ein Klassiker auch er, stammt der Satz, Journalismus sei das "Gespräch mit der Zeit, in der wir leben". Ein Gespräch. Kein Selbstgespräch. Die Zeiten sind härter geworden.
Zuletzt bearbeitet 09.12.2002 12:12 Uhr
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