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Der nächste Wikileaks-Scoop ist der größte - oder: Datenjournalismus als Spielerei

Die Whistleblower-Plattform Wikileaks hat nach den Afghanistan War Logs ihren nächsten, noch größeren Scoop lanciert. Die Veröffentlichung der Irak War Logs, des nach eigenen Angaben "largest classified military leak in history" mit 391.832 geheimen Dokumenten der US-Armee, folgte aus publizistischer Sicht einem schon bewährten Muster: Wikileaks teilte die Informationen vorab mit ausgewählten Medien zur Auswertung, die sie dann mit einer gemeinsamen Sperrfrist "exklusiv" zum Wochenende veröffentlichen durften.

Auch die Reaktionen bewegten sich im vorhersehbaren Rahmen: Das Pentagon warnte, die Veröffentlichung der geheimen Dokumente gefährde das Leben der US-Soldaten - und bringe ansonsten auch nichts Neues. Schon nach Veröffentlichung der Afghanistan-Protokolle war Wikileaks kritisiert worden, die Dokumente nicht ausreichend anonymisiert zu haben. Allerdings berichtete die Nachrichtenagentur AP vor einer Woche unter Berufung auf ein ihr vorliegendes Schreiben des US-Verteidigungsministeriums, durch die Afghanistan-Enthüllungen seien keine US-Geheimdienstquellen oder -praktiken kompromittiert worden.

Breiter gestreut
Neu ist, dass Wikileaks die Erstpublikation erheblich breiter gestreut hat als beim ersten Mal. Die Afghanistan-Protokolle bekamen nur drei Print-Leitmedien - die New York Times, der Guardian und der Spiegel - vorab zu Gesicht. Diesmal nannte Wikileaks via Twitter weitere Medienpartner, vor allem Fernsehsender: CNN, die britischen BBC, IBC und Channel 4 sowie das schwedische SVT, die französische Tageszeitung Le Monde, aber auch das von einer Stiftung finanzierte britische Bureau of Investigative Journalism.

Offenbar erhielten aber nicht alle dieselbe Vorlaufzeit wie der arabische Nachrichtensender Al-Dschasira, der die Dokumente nach eigenen Angaben zehn Wochen lang auswerten konnte - dann aber die Sperrfrist um eine halbe Stunde brach.

Das Kalkül hinter solchen Kooperationen: Einerseits profitiert Wikileaks von der Reichweite und Relevanz der Mainstream-Medien. Andererseits sollen Glaubwürdigkeit und Expertise der etablierten Marken auf das nach journalistischer Reputation strebende Hacker-Projekt abstrahlen. Bleibt die Frage, wer in dieser ungewöhnlichen Symbiose mehr vom anderen profitiert und wer die eigentliche journalistische Leistung vollbringt.

Datenjournalismus spielt keine Hauptrolle
Jedenfalls greift es zu kurz, in den Wikileaks-Enthüllungen nur ein Momentum für Datenjournalismus zu sehen. Dass man sich bei Spiegel Online die Vorfälle jetzt auch auf einer interaktiven Karte anschauen kann, mag Programmierer erfreuen - besonders erkenntnisfördernd ist es selbst für ortskundige Nutzer nicht. Dass im ansonsten verdienstvollen Guardian Data Blog die Leser aufgefordert werden, mit den in einem Spreadsheet gespeicherten Daten von Todesfällen "zu spielen" ("some data to play with"), klingt - sagen wir mal: allzu verspielt. (Update: Die Formulierung ist inzwischen entfernt.)

Wie könnte Datenjournalismus hier helfen, ohne zum Selbstzweck zu geraten? Mittels Crowdsourcing ließe sich womöglich längerfristig der Informationsflut Herr werden. Wikileaks hat offenbar selbst eine War-Logs-Website installiert, auf der jedes einzelne Dokument analysiert und bewertet werden kann. Aber die News über 15.000 bislang unbekannte zivile Kriegsopfer, über zahlreiche von den US-Truppen missachtete Folterungen und Morde durch irakische Sicherheitskräfte sowie die Beteiligung privater US-Sicherheitsfirmen am Krieg sind bereits an diesem Wochenende heraus - und sie beruhen nach der von Wikileaks gewollten Veröffentlichungspraxis auf klassischer journalistischer Bewertung von Material, dessen Quelle im Übrigen nur Wikileaks und sein Impressario Julian Assange kennen und trotz Drucks der US-Seite nicht preisgeben.

Nebenbei hat Assange mit der Publikation des Dokumenten-Konvoluts auch die negativen Schlagzeilen um seinen selbstherlichen Führungsstil und die Suspendierung des deutschen Wikileaks-Mitarbeiters Daniel Domscheit-Berg a.k.a Schmitt zum Verstummen gebracht. Jedenfalls beinahe. Als eine CNN-Reporterin ihn zu den Vorwürfen wegen sexuellen Missbrauchs befragte, brach Assange das Interview einfach ab.
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